Neues Lenkgefühl

Bei schienengebundenen Fahrzeugen ist das Lenken sehr einfach: Die Räder folgen exakt den Schienen. Bei allen anderen Fahrzeugen, vom Fahrrad über das Auto bis zur Pistenraupe lenken die Fahrer ihr Gefährt selbst; hoffentlich sicher. Wie sich das Lenken verändert hat, hat luckx – das magazin recherchiert.

Lenkbewegung

Beim Fahrrad wird an der Stange nach rechts oder links gezogen oder gedrückt. Dann bewegt es sich hoffentlich in die richtige Richtung. Bei einer Pistenraupe wurde bis vor etwa 30 Jahren an zwei Hebeln gezogen, um die einzelnen Ketten zu steuern. Da der Motor mit einer gleichbleibenden Umdrehungszahl lief und eine Hydraulikpumpe antrieb, wurde mit den Hebeln der Hydraulikdruck auf die Ketten gesteuert. Heranziehen des Hebels verringerte den Druck auf die Kette. Heute finden sich in den Pistenraupen Joysticks oder kleine Lenkräder, um diese Fahrzeuge exakt zu steuern. Auch beim Auto ist das Lenkrad kein x-beliebiges Bauteil: Mit ihm sind Fahrerin und Fahrer über die Reifen mit der Straße verbunden. Wie beim Lenker oder dem Joystick erhalten Autofahrer über das Lenkrad Rückmeldungen über das Fahrverhalten, spüren Unebenheiten auf der Straße oder mussten in früheren Zeiten ohne Servolenkung kräftig kurbeln, um in Parklücken zu manövrieren. Nun beginnt bei Mercedes eine neue Ära beim Autofahren: Als erster deutscher Automobilhersteller wird das Unternehmen ab 2026 einen Serien-Pkw mit Steer-by-Wire anbieten. Eine Technik, die schon aus dem Flugzeugbau bekannt ist. Diese Technologie verzichtet auf eine mechanische Verbindung zwischen Lenkrad und Vorderrädern. Über eine elektrische Leitung, auch „by Wire“ genannt, wird die Lenkbewegung schnell und direkt übertragen.

Leichter und individueller

Das gänzlich neuartige Lenkgefühl sorgt für ein einzigartiges Fahrerlebnis mit vielfältigen Vorteilen im Fahralltag: Die Fahrdynamik und Manövrieren sowie Einparken gehen noch leichter von der Hand. Denn der Kraftaufwand kann weiter verringert werden und das Umgreifen am Lenkrad entfällt. Die Fahrwerksspezialisten können die Lenkübersetzung variabel wählen und flexibel an unterschiedliche Situationen anpassen. Dadurch können Fahreigenschaften, die bisher in einem Zielkonflikt standen, mit Steer-by-Wire gleichzeitig optimiert werden: Sportlichkeit und Komfort sind nun noch besser zu vereinen. Ebenso lassen sich Fahrstabilität und Queragilität weiter steigern. Dies wird möglich durch das perfekte Zusammenspiel mit der Hinterachslenkung mit einem Lenkwinkel von bis zu zehn Grad. Von Fahrbahnunebenheiten verursachte Stöße, die bisher als Störungen über das Lenkrad auf Fahrerin oder Fahrer übertragen wurden, können nahezu vollständig unterbunden werden. Das Individualisierungspotenzial ist groß, denn die elektronische Lenkung lässt sich den Kundenvorlieben anpassen. Einzelne Marken oder bestimmte Modelle innerhalb einer Baureihe können unterschiedliche Lenkcharakteristika erhalten. Auch in der Gestaltung neuer Architekturen schafft Steer-by-Wire durch die Entkopplung von Lenkrad und Lenkgetriebe neue Potenziale. Zudem ermöglicht die Technologie neuartige, immersive Gaming-Möglichkeiten während einer Fahrpause.

Flexibilität im Design

Darüber hinaus führt Steer-by-Wire zu mehr Flexibilität im Interieurdesign: Das Lenkrad kann flacher gestaltet werden, was ein großzügigeres Raumgefühl und einen besseren Blick aufs Fahrerdisplay bewirkt. Auch der Ein- und Ausstieg fällt leichter, weil es durch das unten abgeflachte Lenkrad mehr Platz gibt. In Kombination mit zukünftig hochautomatisierten Fahrsystemen lässt sich langfristig eine neue, noch entspanntere Sitzposition des Fahrers realisieren. Und so funktionierst:

Abhängig von Fahrgeschwindigkeit und Fahrsituation gibt ein Aktuator am Lenkrad (Steering Feeback Unit; SFU) das Lenksignal des Fahrenden an das Lenkgetriebe (Steering Rack Unit; SRU) weiter, das die Räder lenkt. Die SFU erzeugt zudem das Mercedes-Benz typische Lenkgefühl. Durch die mechanische Entkopplung von Lenkrad und Rädern entfällt die direkte Gegenkraft. Stattdessen wird der Reifen-Fahrbahn-Kontakt mithilfe der Rückstellkräfte der gelenkten Räder modellbasiert berechnet und entsprechend erzeugt.

Lange Testprozedur

Über eine Million Testkilometer hat das neue Steer-by-Wire-System von Mercedes-Benz bereits auf gleichen Prüfständen absolviert, hinzu kamen in der Größenordnung noch Erprobungs-Kilometer auf Testgeländen und bei der Gesamtfahrzeug-Absicherung im Straßenverkehr. Seinem hohen Sicherheitsanspruch folgend setzt Mercedes-Benz neben hochpräzisen Sensoren und leistungsstarken Steuergeräten auf eine redundante Systemarchitektur. Das bedeutet, dass es grundsätzlich zwei Signal-Pfade und dadurch die doppelte Anzahl der erforderlichen Aktuatoren gibt. Die fahrzeugseitige Daten- und Spannungsversorgung ist redundant ausgeführt. Dadurch ist die Lenkfähigkeit stets gewährleistet. Selbst im unwahrscheinlichsten Fall eines Komplettausfalls ist außerdem dank Hinterachslenkung und mit Hilfe gezielter radindividueller Bremseingriffe über das ESP weiterhin eine Querführung möglich.