Die skandinavische Literatur hat ihre Besonderheiten; wahrscheinlich intensiv geprägt von kalten dunklen Wintern und warmen hellen Sommern. So geht in den nördlichen Region die Sonne im Sommer kaum unter und wenn es im Winter wird, ist von ihr – wenn überhaupt – nur in der Mittagszeit etwas zu sehen. Wahrscheinlich kommt es deshalb auch zu diesen literarischen Ergebnissen wie bei der Finnin Siina Tiuraniemi. „Frischluftvergiftung“ kann nur schräg sein. So sind es denn auch die Charaktere in diesem Roman. Mit rabenschwarzen Humor und jeder Menge Alkohol und Drogen.
Die Mutter des eigenbrötlerischen Student Miska bittet ihn, ihre älteren Cousine im Pflegeheim zu besuchen. Birgitta, so heißt die Dame, entpuppt sich als besonders zynisch. Aufgrund eines Alkoholproblems hat sie beide Beine verloren und ist auf den Rollstuhl angewiesen. Was als harmloser Besuch beginnt, bringt den 24 jährigen Studenten der Geisteswissenschaften zuerst in arge Bedrängnis. Doch der Vegetarier und Bartträger mit arg vernachlässigtem Äußeren könnte eigentlich dem Ebenbild eines Hipsters entsprechen. Nur dass er absolut nicht hip ist. Wehleidig, introvertiert, chronisch pleite, mit Hang zum Autismus, ohne Entschluss- und Motivationskraft schleppt er sich durch den Tag. Doch Ereignisse werfen ihn aus seiner Lethargie.
Erstens ist da Emma, die neue Freundin seines Mitbewohners sowie ältesten Freundes Ville. Da es sich um eine ernsthafte Beziehung zu handeln scheint, fühlt sich Miska zurückversetzt und macht keinen Hehl aus seiner Abneigung gegen die „Megäre aus der Unterwelt“, was zu Spannungen in der WG führt.
Zweitens ist da Birgitta, die ihn mit ihrer forschen, sarkastischen Art völlig überfordert. Als Miska ihr aus purem Mitgefühl einen Joint überlässt, öffnet er die Büchse der Pandora. Natürlich kann Birgitta nicht den Mund halten. Plötzlich verlangen die Bewohner des Pflegeheims nach weiteren Drogen und verbotenen Substanzen wie einer cholesterinhaltigen Fleischwurst.
Zu allem Überfluss tritt der schwule, exhibitionistisch veranlagte Schauspieler und Drogendealer Kurttu in sein Leben. Mit Miskas Strategie, Probleme auf die lange Bank zu schieben bis sie in Vergessenheit geraten oder sich jemand anders darum kümmert, kommt er hier nicht weiter. Die vermögende Birgitta bietet ihm derweil jede Menge Bares und die Aussicht auf ihr Erbe an. Miska, der sich nicht viel aus Geld macht, aber auch nie welches besitzt, will entrüstet ablehnen. Aber die TV-Programme sehen auf dem großen, neuen Flachbildfernseher eben viel besser aus. Folge: Miska muss sich plötzlich mit moralischen Fragen auseinandersetzen.
Der finnischen Autorin Siina Tiuraniemi ist ein rabenschwarzer und doch empathischer Roman gelungen. Ihr Plot ist sowohl eine außergewöhnliche Freundschaftsgeschichte, als auch ein eigenwilliger Coming-of-Age Roman. Dass die Autorin in eine männliche Ich-Perspektive schlüpft, gibt der Geschichte neue Impulse. So stellen die resolute Birgitta und der weinerliche, zur Magersucht neigende Miska gängige Rollenklischees auf den Kopf. Miska durchlebt eine Entwicklung, den Lesern ergeht es ebenso. Es dauert, bis wir Zugang zu ihm finden. Zunächst können wir seine Reaktionen und Eigenheiten kaum nachvollziehen, doch anhand witziger Rückblenden erhalten wir immer mehr Einblick in sein außergewöhnliches Seelen- und Familienleben.
Wer skandinavische Literatur und insbesondere finnischen Humor mag, ausgefallene Charaktere nicht ablehnt und vom Norden fasziniert ist, wird von diesem Roman bestens unterhalten.
Siina Tiuraniemi: Frischluftvergiftung bei minus 20 Grad.
Erschienen bei DTV.