Traumberuf LKW-Fahrer?

Unabhängig, Freiheit, die große weite Welt erleben – so wird gern der Traum von Truckerleben dargestellt. Doch die Realität sind anders aus: Stau, Zeitdruck, kein Familienleben. Der Branchenverband Camion Pro stellte eklatante Missstände im europäischen Transportgewerbe fest, wie luckx – das magazin erfuhr.

Ausbeutung

Spätestens nach 10 Stunden ist Schluss. Dann müssen LKW-Fahrer nach einen Schlafplatz suchen. Und das wird von Jahr zu Jahr immer schwieriger. Denn die Lagerhaltung des produzierenden Gewerbes wurde immer mehr auf die Straße verlegt. Also sind mehr LKWs unterwegs und suchen – meist alle zur gleichen Zeit – nach einem Übernachtungsplatz. Meist direkt an der Autobahn. Da kann von einem erholsam Schlaf keine Rede sein. Doch das sind anscheinend die geringsten Probleme beim LKW-Fahren. Aktuelle wissenschaftliche Studien, Beobachtungen der Kontrollbehörden und die rechtliche Beurteilung der kriminellen Geschäftspraktiken überwiegend osteuropäischer Speditionen zeigten dabei auf, dass auch Deutschland von moderner Sklaverei betroffen ist und Gesetzgeber wie Behörden viel zu wenig dagegen unternehmen.

Eine aktuelle Umfrage der Wirtschaftsuniversität (WU) Wien in Zusammenarbeit mit der Griffith University, Queensland/Australien und dem Branchenverband Camion Pro unter 1027 Lkw-Fahrerinnen und -Fahrern aus Belarus, der Ukraine und weiteren osteuropäischen Staaten im EU-Einsatz deckt eklatante Missstände im europäischen Transportgewerbe auf. Wie Dr. Wolfram Groschopf vom Institut für Transportwirtschaft an der WU beim Camion Pro-Symposium „Moderne Sklaverei in der europäischen Transportwirtschaft“ in München berichtete, sind 95 Prozent der Befragten bei Speditionen in Litauen und Polen beschäftigt und dort von massiver Ausbeutung betroffen.

Untersuchungsergebnisse

So gaben etwa 63 Prozent der Befragten an, über keine Arbeitslosenversicherung zu verfügen. 92,4 Prozent waren nicht rentenversichert. Zugleich sind niedrige Fixgehälter mit weniger als 400 Euro oder eine leistungsabhängige Bezahlung an der Tagesordnung. Mindestlohn und bezahlte Urlaubs- oder Krankheitszeiten: Fehlanzeige. Dabei gaben annähernd 70 Prozent der Befragten an, pro Arbeitseinsatz acht bis zwölf Wochen oder mehr am Stück von zu Hause weg zu sein. 35 Prozent aller Befragten gaben zudem an, von ihrem Arbeitgeber regelmäßig mit gefälschten Dokumenten, wie Urlaubsscheinen, Hotelrechnungen oder sonstigen Transportdokumenten ausgestattet zu werden.

Unsere Umfrage zeigt eindrücklich, dass die Arbeitsbedingungen osteuropäischer Lkw-Fahrerinnen und -Fahrer in der EU in vielen Fällen Elemente moderner Sklaverei aufweisen“, kommentiert Groschopf. „Die Studie zeigt zudem, dass die Covid-19-Pandemie zu einer weiteren Verschlechterung der Arbeitsbedingungen beigetragen hat. Der Ukraine-Krieg verschärft die schlechte Arbeitssituation vieler osteuropäischer Lkw-Fahrerinnen und -Fahrer zusätzlich.“

Ausgenutzt

Die Ergebnisse der aktuellen Studie decken sich mit den Recherchen von Camion Pro-Vorstand Andreas Mossyrsch, der im vergangenen Jahr selbst in Litauen war, um Informationen aus erster Hand zu erhalten. So äußerste der Oppositionspolitiker Laurynas Šedvydis im Gespräch mit Mossyrsch offen den Verdacht mafiöser Strukturen in der litauischen Transportbranche. Einige davon gehören zu den größten Wirtschaftsunternehmen des Landes und setzen nach Aussage von Šedvydis die Regierung unter Druck, indem sie mit Abwanderung drohen. „95 Prozent der Beschäftigten im internationalen Transport, kommen aus Nicht-EU-Staaten. Diese Gruppe wird systematisch ausgebeutet“, erklärt Mossyrsch.

So berichtete ein litauischer Rechtsanwalt, der regelmäßig Lkw-Fahrer vor Gericht vertritt und der lieber anonym bleiben möchte, Mossyrsch gegenüber von haarsträubenden, illegalen Praktiken, die bei der Anstellung von Fahrern aus Osteuropa an der Tagesordnung seien. So würden den Fahrern Verträge und Abrechnungen ausschließlich in litauischer Sprache vorgelegt, sodass die Fahrer den Inhalt nicht verstehen. Mit ihrer Unterschrift verzichten die Fahrer dabei häufig auf bezahlten Urlaub, auf die Rückkehr an den Heimatstandort für die wöchentliche Ruhezeit und auf Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Vielfach verpflichten sich die Fahrer zudem unwissentlich zu Schadensersatz oder Lohnabzug im Falle eines Unfalls oder Rangierschadens oder bei Verlust oder Diebstahl der zur Verfügung gestellten Tankkarten.

Rechtsverstöße ohne Ahndung

All diese Praktiken verstoßen gegen die Europäische Sozialcharta“, konstatierte Rechtsanwältin Margit Fink, welche die durch die Studie der WU Wien und die Recherchen von Camion Pro aufgedeckten Arbeitsbedingungen osteuropäischer Fahrer im EU-Einsatz aus rechtlicher Perspektive beurteilte. Viele Absprachen, Verträge und Praktiken seien auch nicht mit der europäischen Richtlinie zur Entsendung von Kraftfahrern im Straßenverkehrssektor vereinbar. Zwar bestehe bei einem Einsatz der betroffenen Fahrer im Bundesgebiet grundsätzlich die Möglichkeit vor deutschen Gerichten ihre Rechte einzuklagen, so Anwältin Fink, jedoch wissen die Fahrer meist nicht, an wen sie sich bei Rechtsverletzungen wenden können. Zudem fehlen meist die Mittel, um einen qualifizierten Rechtsbeistand zu bezahlen.

Raymon Lausberg, Hauptinspektor und Leiter der Transportgruppe der Autobahnpolizei in Battice, Belgien, berichtete aus der Kontrollpraxis der belgischen Polizei und zeigte auf, dass die verhängten Bußgelder die Unternehmen nicht abschrecken, da diese im Vergleich zu den durch die Ausbeutung der Fahrer erwirtschafteten Gewinne äußerst gering seien. Auch das jüngst in Kraft getretene Mobilitätspaket, das unter anderem die Entsendung von Fahrern über mehrere Wochen oder sogar Monate unterbinden soll, wirke nicht in ausreichendem Maße. „Das Mobilitätspaket ist ohne Kontrollen unwirksam“, stellt Lausberg fest. „Ich habe den Eindruck, wir schauen in Europa kollektiv weg und überlassen Kriminellen das Feld. Wenn sich hier nichts ändert, werden wie die Kontrolle über den westeuropäischen Transportmarkt an kriminelle Unternehmen verlieren.“

Forderung

Als Konsequenz aus diesen Erkenntnissen formulierte Camion Pro-Vorstand Andreas Mossyrsch mehrere konkrete Forderungen an die nationalen und europäischen Gesetzgeber, um der modernen Sklaverei in der europäischen Transportwirtschaft Einhalt zu gebieten. So sei beispielsweise die Einführung einer europäischen Sozialversicherung, Renten-, und Urlaubskasse unter zentraler Verwaltung und mit einem EU-weiten Sozialversicherungsausweis eine geeignete Maßnahme. Des Weiteren forderte Mossyrsch die Entbindung des Zolls und des BAG von den Kontrollaufgaben im Bereich des Straßengütertransports und die Zusammenfassung der Kontrollen zu Sozialdumping, Ladungssicherung, Arbeitsgenehmigungen, Fahrzeugsicherheit, Gewerbe, Tacho und Abgaskontrolle in einer neuen Behörde, die etwa der Bundespolizei zugeordnet sein könnte. Diese Behörde „Kontrolleinheit“ sollte dann ganzheitlichen Kontrollen nach belgischem Vorbild durchführen.

Darüber hinaus forderte der Camion Pro-Vorsitzende ein europaweites Zentralregister für Straftaten und Verstöße im Bereich den gewerblichen Güterkraftverkehr. Zudem müssten die Bußgelder für Verstöße so angepasst werden, dass sie den wirtschaftlichen Vorteil aus der Tat deutlich übersteigen. Andreas Mossyrsch: „Es muss ein eskalierendes Bußgeld- und Sanktionssystem geschaffen werden, das kriminellen Unternehmen die Geschäftsgrundlage entzieht.“ Unternehmen, die wiederholt durch Verstöße auffallen, müsse zudem die EU-weite Güterkraftverkehrsgenehmigung entzogen werden. Grundlage hierfür sei, dass man in diesem Fall von einer fehlenden unternehmerischen Zuverlässigkeit auszugehen müsse, die jedoch ein wesentliches Zulassungsmerkmal für die Erteilung einer EU-Lizenz sei.