Krisenbewältigung

Schon der erste Lockdown im Frühjahr 2020 hat gezeigt, dass viele Menschen den Kontakt zur Außenwelt verlieren. Die Einsamkeit hat bei ihnen zu Angststörungen und Depressionen geführt. Nun im zweiten Lockdown gerade während des Weihnachtsfest könnten sich psychische Probleme gesteigert wieder finden. Das wird erst das neue Jahr zeigen. Sicher ist aber jetzt schon, dass während der Corona-Krise immer mehr Menschen in seelische Nöte geraten. Psychotherapeuten und Psychiater verzeichnen deutlich mehr Therapieanfragen als üblich. Vor allem Ängste, Überforderung, familiäre Probleme und Nervosität machen ihren Patienten zu schaffen. Auch die Diagnosen Angststörungen und Depressionen werden häufiger, stellen vier von fünf Therapeuten fest. Dies sind Ergebnisse einer Studie zu „Psychische Gesundheit in der Krise“, für die bundesweit 154 Psychiater und Psychotherapeuten in Praxen und Kliniken befragt wurden.

Mehr psychische Krisen

82 Prozent der Befragten diagnostizieren öfter Angststörungen als vor der Krise. 79 Prozent stellen vermehrt die Diagnose einer Depression, 74 Prozent vermerken Anpassungsstörungen, also stark ausgeprägte Reaktionen auf belastende Ereignisse. 72 Prozent sprechen von einer Zunahme somatoformer Störungen, also von Beschwerden wie Müdigkeit, Erschöpfung oder Schmerzen ohne organische Ursache. Vor allem die Nachtruhe ist beeinträchtigt: Dass Patienten nicht schlafen können, ohne dass es dafür eine körperliche Ursache gibt, beobachten zwei Drittel der Psychiater und Therapeuten vermehrt seit Beginn der Corona-Krise. In vielen Fällen war eine medikamentöse Therapie angezeigt. Knapp ein Viertel der Befragten hat seit Beginn der Pandemie mehr Arzneimittel verschrieben.

Gefühlte Bedrohung

Die Pandemie stellt den Alltag auf den Kopf und raubt den Menschen das sichere Gefühl gewohnter Strukturen“, sagt Dr. Gerd Herold, Beratungsarzt bei der pronova BKK. „Überforderung entsteht zum Beispiel im Familienleben oder im Corona-bedingten Homeoffice. Neue Vorschriften und Umgangsformen wie Abstandsregeln, Masken oder Kontaktbeschränkungen wirken verunsichernd und tendenziell destabilisierend. Angst vor einer Infektion mit dem Virus, um Angehörige, um den Job, Existenzsorgen oder auch Ängste vor sozialer Isolation im Lockdown sind weit verbreitet und hinterlassen Spuren.“

Wer psychisch labil ist, ist nun umso anfälliger. Patienten, die schon vor der Krise unter Ängsten litten oder sich überfordert fühlten, setzt die Pandemie besonders zu. Ihre Beschwerden wurden schlimmer. Das stellen 92 Prozent der befragten Psychiaterinnen und Psychiater sowie Therapeutinnen und -therapeuten fest. Verstärkt werden aus Sicht von rund 80 Prozent der Experten zudem Symptome wie Unruhe und Nervosität, Niedergeschlagenheit, Erschöpfung und Antriebslosigkeit. Aber auch familiäre Probleme würden durch die Einschnitte in der Corona-Krise verschärft. „Wer ohnehin in Beziehungsproblemen oder Ehekrisen steckt, erlebt oft, dass sich die Konflikte mit zunehmendem Alltagsstress zuspitzen. Es ist zu befürchten, dass Streitigkeiten auch gewalttätig ausgetragen werden“, so Dr. Herold von der pronova BKK.

Wenn Corona krank macht

Auch bislang unbelastete Menschen geraten in der Corona-Pandemie in seelische Nöte: Fast alle befragten Mediziner berichten von neuen Patientinnen und Patienten, die erst seit der Corona-Krise in Behandlung sind. Terminanfragen haben vor allem bei niedergelassenen Psychiatern und Psychotherapeuten zugenommen. Überforderung im Corona-Alltag, Ängste und familiäre Probleme hatten den neuen Patienten so zugesetzt, dass sie sich in Behandlung begaben. Besonders groß war der Andrang der Studie zufolge im dritten Quartal 2020. „Erst nach dem Lockdown im Frühling suchten die Menschen verstärkt psychologische Unterstützung. Im Sommer sanken die Infektionszahlen und die akuten Corona-Sorgen wurden kleiner – Menschen, die psychisch stark gelitten hatten, kämpften aber mit anhaltenden Beschwerden. Das war der Moment für viele, professionelle Hilfe einzuholen“, sagt Dr. Herold von der pronova BKK.

Zur Studie

Die Befragung „Psychische Gesundheit in der Krise“ wurde im Oktober und November 2020 im Auftrag der pronova BKK im Rahmen einer Online-Befragung durchgeführt. Bundesweit nahmen 154 Psychiaterinnen und Psychiater sowie Psychotherapeutinnen und -therapeuten daran teil.