Alles Tarnung

Nun sind sie gerade nicht im täglichem Straßenverkehr zu beobachten. Denn das sollen sie nicht. Denn sogenannte Erlkönige – also Fahrzeuge, die noch in der Erprobung sind – sollen gerade nicht erkannt werden, wenn sie auf öffentlichen Straßen unterwegs sind. Denn bevor nun in den nächsten Tagen im wahrsten Sinne des Wortes in aller Öffentlichkeit die „Hüllen fallen“, sind sie in einem Tarnkleif unterwegs. Diese kann aus wilden Zickzack-Mustern in Schwarz-Weiß oder Sonderaufbauten bestehen. So sollen sie vor neugierigen Blicken der Konkurrenz, Journalisten und den Paparazzi geschützt werden.

Ganz gleich, ob klassischer Verbrennungsmotor oder moderner Elektroantrieb, jede Komponente, jedes System eines Fahrzeugs muss absolut zuverlässig funktionieren. Um das zu garantieren, werden alle Teile per virtueller Simulation und auf Prüfständen ausgiebig getestet. Doch das seine Grenzen. Zur Validierung der Ergebnisse kommt unweigerlich der Tag X, an dem die Prototypen in ihr natürliches Habitat entlassen werden müssen – die Straße. Doch wenn das Fahrzeug das erste Mal aus dem streng abgeschirmten Entwicklungszentrum auf die Teststrecke oder öffentliches Straßenland rollt, dann ist Tarnung Trumpf. Dann ist die Zeit des Erlkönigs gekommen. Schließlich sind die Prototypen bis heute exklusive Vorboten neuer Modelle, die zuerst auf der IAA oder zu anderen Anlässen öffentlich ihre Premiere feiern. Und Überraschungen können nur gelingen, wenn sie nicht vorzeitig bekannt werden.

Die Natur als Vorbild

Tarnung ist aus dem Tierreich bestens bekannt. Beutetiere tarnen sich mit erdigen Farben, um so vor natürlicher Kulisse unsichtbar für Raubtiere zu sein. Tiger oder Leoparden dagegen tragen Muster, die aus der Entfernung gesehen dessen Umrisse auflösen. Der Mensch übernahm diese Prinzipien für die Jagd. Die Entwicklung moderner Camouflage wurde später vom Militär adaptiert, um Panzer, Artillerie und Schiffe möglichst unkenntlich zu machen. Der britische Künstler Norman Wilkinson entwarf dazu das “Dazzle”-Muster, das aus schwarzen und weißen Rechtecken besteht. Damit wurde ein Großteil der britischen Marineflotte getarnt. Damals wie heute sollen die skurrilen Muster optische Verwirrung bei Fotoobjektiven und dem menschlichen Auge stiften. Die Täuschung verhindert zwar nicht, dass ein Objekt gesehen wird, sondern verringert aber die Fähigkeit zur Erkennung von Tiefenschärfe und Schatten.

Raubtiere sind Meister der Tarnung

Den Begriff Erlkönig hat einst das renommierte Fachmagazin „auto motor und sport” geprägt. Im Sommer 1952 erschien erstmals ein Foto eines Erprobungsfahrzeugs unter der gleichnamigen Rubrik. Der damalige Chefredakteur Heinz-Ulrich Wieselmann und sein Stellvertreter Werner Oswald hatten das Foto eines Mercedes-Benz 180 veröffentlicht, das zuvor der Redaktion zugespielt worden war. Die nach heutigen Maßstäben eher lächerlich harmlosen wirkenden Schnappschüsse waren damals eine Provokation für die Automobilindustrie, schließlich konnten jetzt die Öffentlichkeit und damit auch die Konkurrenz an geheimen Testwagen optisch teilhaben.

Müssen die einen auf Neuheiten möglichst schnell mit eigenen Innovationen reagieren, steht für die Medien die Auflage und Klickraten im Fokus. Zunehmend kommen Fotos von Erlkönigen heute von Amateuren, die im Urlaub mit ihrem Smartphone einen Zufallstreffer knipsen und auf sozialen Medien teilen. Und selbst Photoshop-Laien können die Tarnung dank neuester Software in Teilen auflösen. Frische Karosserieformen vor fremden Blicken zu schützen ist daher in den vergangenen Jahrzehnten zu einer Kunstform der ganz besonderen Art gereift. Ob Flecken- oder Zebradesign, Streifen, Kringel oder Rauten, Karos oder Kringel zum Einsatz kommen, darüber entscheiden heute eigens darauf spezialisierte Experten in den Entwicklungsabteilungen der Automobilhersteller, die die Versuchswagen mit Sonderfolien ausstatten, die auch unter extremen Wetterbedingungen halten.

Getarnt bis zur IAA

An manchen Stellen der Karosserie werden die Folien noch mit Aufbauten unterfüttert, Scheinwerfer und Rückleuchten kaschiert sowie Fenster abgeklebt. Dabei muss alles im gesetzlichen Rahmen bleiben. Der TÜV schreibt beispielsweise vor, dass Lichtkegel, Bremsleuchten und alle anderen Funktionsteile des Exterieur auch bei Prototypen den gesetzlichen Bestimmungen entsprechen müssen. Sogar der Innenraum wird mit Gummimatten ausstaffiert und Displays mit Blickschutzfolie versehen. Zudem gibt es strikte Regelwerke, wie mit Prototypen umzugehen ist. Getarnte Versuchswagen dürfen keinesfalls auf öffentlichen Plätzen geparkt werden. Auch ist stets eine Abdeckplane im Fahrzeug mitzuführen, denn im Falle einer Panne oder Unfalls muss das Fahrzeug unverzüglich verhüllt werden. Und wenn alles nach Plan verläuft, steht der Überraschung auf der IAA, nichts mehr im Wege – wenn die Autos ihre letzten Hüllen fallen lassen.