Eigentlich geht es immer nur nach vorn. Das betrifft unsere Vorstellung von der Wirtschaft, dem Sport als auch beim Autofahren. Doch manchmal werden wir zum Bremsen regelrecht gezwungen. Wie so etwas bei Hypercars funktioniert, hat luckx – das magazin recherchiert.
Exklusiv
Es kann doch wohl nicht so schwer sein, einen Sportwagen zum Halten zu bekommen. Sicherlich, wer mit so einem Fahrzeug erfahren ist, für den ist es kein Problem. Doch immer mehr Menschen sind finanziell in der Lage, sich ein PS-starkes Auto zu kaufen. Doch den meisten fehlt die Übung. Das hat auch Bugatti erkannt und Continental beauftragt, für den Hypersportwagen Bugatti Bolide ein elektronisches Bremsregelsystem mit Antiblockiersystem (ABS), Elektronischer Stabilitätskontrolle (ESC) und Traktionskontrolle (TCS), basierend auf dem „Motorsports ABS Kit by Continental Engineering Services“ zu entwickelt. Das Motorsport-Bremsregelsystem soll den 1.600-PS-Rennwagen sowohl für professionelle Motorsportler als auch für Enthusiasten beherrschbar machen. Denn der Bugatti Bolide ist ein besonders leistungsstarker Hypersportwagen des Hypercar-Herstellers, der nur für die Rennstrecke zugelassen ist. Er wurde zunächst als Show-Fahrzeug auf Basis des Serienmodells Bugatti Chiron konzipiert, jetzt aber in einer Kleinserie von 40 Exemplaren gebaut. Dieses Jahr sollen noch die ersten Fahrzeuge an die Kunden ausgeliefert werden.
Jahrelange Zusammenarbeit
Nun erscheinen die Anforderung insbesondere bei der Leistungsentfaltung und auf einer Rennstrecke vorhandenen Kurven besonders anspruchsvoll zu sein. Vorausahnend hat Bugatti erkannt, dass nicht nur erfahrene Rennsportenthusiasten sich so ein Auto in die Garage stellen. So wurde aufgrund der langjährigen Zusammenarbeit Continentals interner Entwicklungs- und Ingenieurdienstleister mit der anspruchsvollen Entwicklungen beauftragt. Erfahrungen haben die Hannoveraner schon aus der Zusammenarbeit vor allem rund um die Modelle Bugatti Chiron und Bugatti Veyron. Zwar ist die Entwicklung für Fahrzeuge „ohne Nummernschild“ etwas einfacher, weil keine Straßenzulassung erforderlich ist. Doch das aktuelle Projekt sticht bei Entwicklung und Integration der Hard- und Software-Komponenten heraus, denn nicht für die Straße zugelassene Rennfahrzeuge sind vornehmlich für Höchstleistung im Rennsport optimiert und nutzen eigentlich keine derart komplexen Fahrdynamikregelsysteme.
Einen Rennwagen eben nicht nur für professionelle Motorsportler, sondern für alle Fahrerinnen und Fahrer beherrschbar zu machen, das stellte eine besonders interessante Herausforderung dar. Dazu betont Christian Willmann, Bugatti-Chefingenieur des Bolide: „Noch nie zuvor wurde ein ESC-System mit Carbon/Carbon-Bremsen kombiniert – bis jetzt. Im Bolide haben wir diese Herausforderung gemeistert. Das Resultat, basierend auf Continentals Motorsport-Bremsregelsystem, übertrifft unsere Erwartungen in Bezug auf Leistung, Stabilität und Sicherheit bei weitem. Mit dem Motorsport-ABS von Continental wird der Bolide noch einzigartiger.“
Herausforderung beherrschbar machen
Continental konnte in dieses Sportwagen-Projekt seine langjährigen Erfahrungen sowohl aus der Arbeit für Bugatti als auch im Bereich Motorsport einbringen: Zum einen hatte der Entwicklungsdienstleister bereits für die Serienhypersportwagen Veyron und Chiron – der Bolide setzt auf der Chiron-Plattform auf – Bremsregelsysteme entwickelt. Zum anderen bietet Continental explizit für alle Kunden aus dem Rennsport ein Basis-Motorsport-ABS an, das für den Einsatz im Bugatti Bolide adaptiert und um neue Funktionen erweitert wurde.
Bei der Entwicklung des individuell angepassten Produkts stand das Motorsportteam vor der Herausforderung, ein hinsichtlich seiner fahrdynamischen Fähigkeiten herausragendes Fahrzeug für alle beherrschbar zu machen. Beschleunigungs- und Bremskräfte müssen so geregelt sein, dass das Fahrzeug trotz seiner 1.600 PS sicher zu lenken und zu führen ist. Dafür sorgen die Fahrdynamikregelfunktionen. Die Traktionskontrolle regelt die Kraft von 1.600 PS so, dass in jeder Situation der jeweils maximale Vortrieb ermöglicht wird. Das Antiblockiersystem sorgt für die bestmögliche Bremsleistung, unabhängig von den äußeren Gegebenheiten. Die elektronische Stabilitätskontrolle hält das Fahrzeug auch bei anspruchsvollen Manövern stabil auf Kurs.
Ein derart exklusives Fahrzeug, das bewusst nicht für den Einsatz auf öffentlichen Straßen entwickelt wurde, muss gleichzeitig den hohen Anforderungen professioneller Rennfahrerinnen und Rennfahrer gerecht werden sowie für unerfahrenere Fahrerinnen und Fahrer sicher erlebbar sein. Die Lösung bestand darin, ein Bremsregelsystem zu entwickeln, bei dem die einzelnen Fahrdynamikfunktionen wahlweise aktiviert oder deaktiviert werden können. Ein Vorteil in diesem Prozess war, dass einer der beteiligten Ingenieure von Continental Engineering Services (CES) selbst aktiver Rennfahrer im Besitz einer Rennlizenz ist. Zusammen mit den Werksfahrern des Herstellers konnten die Regelsysteme so optimal für den Einsatz auf Rennstrecken abgestimmt werden.
ABS der besonderen Art
Das Bremsregelsystem des Bolide bietet fünf verschiedene Fahrmodi für das Antiblockiersystem sowie für die Kombination aus Elektronischer Stabilitätskontrolle und Traktionskontrolle. Diese Modi reichen vom reinen Rennmodus über stufenweises Zuschalten der Fahrdynamikregelung bis zum umfassenden Einsatz elektronischer Unterstützung. Die unterschiedlichen Fahrcharakteristika lassen sich während der Fahrt direkt am Lenkrad anpassen, abhängig von Streckenverlauf, Wetterbedingungen oder dem Zustand der Reifen. Wird die Bremsbalance zwischen Vorder- und Hinterachse angepasst, kann das flexible System von CES damit besonders gut umgehen. Das ermöglicht es, jederzeit die beste Bremsleistung zu erreichen – egal, ob die Reifen kalt sind oder bereits während einer Runde auf der Rennstrecke die optimale Reifentemperatur erreicht haben.
Motorsport-Know-how
Als besondere Herausforderung erwiesen sich die im Rennsport üblichen, extremen physikalischen Kräfte. So treten beim Bremsen des 1.600 kg schweren Hypersportwagens Verzögerungen von bis zu 2,5 g auf – das ist mehr als doppelt so viel im Vergleich zur maximalen Verzögerung eines Autos mit Straßenzulassung. Auch der aerodynamische Abtrieb bei hohen Geschwindigkeiten musste in die Regelstrategien des Motorsport-Bremsregelsystems von CES einbezogen werden: Das 380 km/h schnelle Fahrzeug belastet die Räder bei hohen Geschwindigkeiten im Vergleich zum Stillstand mehr als doppelt so stark. Um diesen extremen Anforderungen gerecht zu werden, mussten die Expertinnen und Experten von CES das hauseigene Software-Paket des Basis-Motorsport-ABS anpassen und erweitern – die Algorithmen der Regelfunktionen wurden weiterentwickelt, um die außergewöhnliche Dynamik des Bolide zu bändigen. Dank dieser Optimierungen konnten die Systeme ihre beeindruckende Leistungsfähigkeit auch im Zusammenspiel mit Rennsport-Komponenten wie der Carbon/Carbon-Bremsanlage und speziellen Langstrecken-Slick-Reifen voll entfalten.
Dem unscheinbaren Bremsregelsystem sieht man das Ergebnis dieser außergewöhnlichen Kooperation nicht an. Es ist in der Lage, ein 1.600 PS starkes Hypercar sicher durch enge Haarnadelkurven zu manövrieren und den Bremsdruck selbst bei Spitzengeschwindigkeiten von bis zu 380 km/h präzise zu regeln. Dabei wiegt es weniger als zwei Kilogramm und hat gerade einmal die Größe eines Ziegelsteins. Auch bei der Entwicklung war Geschwindigkeit gefragt: CES konnte das exklusive Regelsystem vom ersten Meeting bis hin zum finalen Fahrtest in nur einem Jahr realisieren.