Im Frühjahr und Sommer haben wir erlebt, was Schulschließungen bedeuten: Sie stellen Eltern, Lehrer und insbesondere Schülerinnen und Schüler vor bisher völlig unbekannten Problemen. Auch wenn zu Beginn eher die Freude über schulfrei überwog, wurde allen schnell klar, dass immer mehr Aufgaben auf Eltern zukommen. Doch neben Homeoffice war Homeschooling nicht unbedingt das, was Eltern gleichzeitig leisten konnten. Durch die zu geringe Qualifikation der Lehrkräfte mit modernen Kommunikationsmitteln waren diese deutlich überfordert. Das alles führte zu verstärkten herkunftsbedingten Ungleichheiten. Das gilt vor allem in den ersten beiden Klassenstufen der Grundschule, wie eine Kurzexpertise des Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung GmbH (ZEW) Mannheim zeigt. Diese Ungleichheiten betreffen nicht nur die fachlichen Kompetenzen wie etwa mathematische und sprachliche Fähigkeiten, sondern auch die Ausdauer und die Konzentrationsfähigkeit.
Zwingend erforderlich
„Schulschließungen sind aus epidemiologischer Sicht unumgänglich gewesen. Aber sie haben signifikante Nebenwirkungen“, so ZEW-Bildungsökonom Dr. Guido Neidhöfer vom ZEW-Forschungsbereich „Arbeitsmärkte und Personalmanagement“ und Mitautor der ZEW-Kurzexpertise. „Das gilt vor allem, wenn sie länger dauern. Damit gefährden Schulschließungen ohne ein geeignetes Konzept für das Lernen zu Hause den Gleichheitsanspruch der Bildungspolitik“, schlussfolgert Neidhöfer. Als Konsequenz fordern die Studienautoren von der Politik die Entwicklung digitaler Lernformate, um auch während der Schulschließungen alle Kinder zu erreichen. Denn durch den Unterrichtsausfall könnten bei den Schülerinnen und Schülern Lerndefizite entstehen. Insbesondere bei den schulischen Leistungen kann sich die Ungleichheit von Kindern mit unterschiedlichem familiärem Hintergrund erhöhen.
Zusätzliches Schuljahr
Kinder aus sozioökonomisch verschiedenen Elternhäusern unterscheiden sich teilweise beträchtlich in ihren schulischen Leistungen. „Um Defizite auszugleichen, bräuchten die schwächsten 25 Prozent der Schülerinnen und Schüler im Mittel etwa ein zusätzliches Schuljahr“, sagt ZEW-Wissenschaftler Maximilian Bach aus dem Forschungsbereich „Arbeitsmärkte und Personalmanagement“ und Mitautor der Studie. „Das zeigt, dass die Ungleichheiten bei den Lernergebnissen je nach Familienumgebung schon bei der Einschulung groß sind.“ Denn Erstklässlerinnen und Erstklässler, deren Eltern Abitur und eventuell einen Hochschulabschluss haben oder die einen prestigeträchtigen Beruf ausüben, erzielen in Tests wesentlich bessere Ergebnisse. Die Einschätzung ihrer Leistungen durch Lehrerinnen und Lehrer fällt ebenfalls positiver aus. Besonders deutlich wird dies bei den sprachlichen Fähigkeiten. Präsenzunterricht an der Schule gleicht die Wirkung von wirtschaftlichen und sozialen Unterschieden im Familienumfeld teilweise aus. Vor den Corona-bedingten Schulschließungen erzielten Grundschülerinnen und Grundschüler im Laufe eines Monats ähnlich gute Lernfortschritte – unabhängig von ihrem familiären Umfeld, wie die Studienautoren darlegen. Schulschließungen bewirken dagegen, dass die Herkunft der Schülerinnen und Schüler einen stärkeren Einfluss auf ihre schulischen Leistungen bekommt. Diese Ergebnisse lassen sich zwar nicht ohne weiteres auf eine Zeit von drei Monaten oder ein ganzes Schuljahr hochrechnen. „Die Analyse verdeutlicht aber, dass die Lernzuwächse im Präsenzunterricht in der Schule unabhängig vom Familienhintergrund sind“, sagt Guido Neidhörer. „Da alle Schülerinnen und Schüler ein vergleichbares Lernumfeld vorfinden, können sie in der Schulzeit etwa gleich viel dazulernen. Zeiten, in denen die Schulen geschlossen sind, verstärken daher Ungleichheit, insbesondere in den ersten Grundschuljahren.“
Smartphones nutzen
Ein weiteres Indiz für die Auswirkung von Schulschließungen liefern die Sommerferien. Die ZEW-Kurzexpertise zeigt, dass der Lernzuwachs von der ersten zur zweiten Klasse je nach Herkunft der Schülerinnen und Schüler variiert. Kinder von Erziehungsberechtigten mit geringerer Bildung und Berufsprestige fallen bei den schulischen Lernergebnissen nach den Sommerferien wieder zurück.
Ein bisher ungenutztes Potenzial für den Unterricht während Schulschließungen liegt in der hohen Verbreitung von digitalen Geräten. Mehr als 90 Prozent aller Sechstklässlerinnen und Sechstklässler besitzt nach Angabe ihrer Erziehungsberechtigten ein eigenes Handy. „Das Potenzial von Smartphones sollte verstärkt für eine Professionalisierung des Lernens zu Hause genutzt werden, um dem Gleichheitsanspruch auch außerhalb des Lernortes Schule gerecht zu werden“, sagt Maximilian Bach. „Der Aufwand für die öffentliche Hand, diejenigen Kinder ohne Handy entsprechend auszustatten, sollte sich in einem vertretbaren Rahmen halten.“
Schulunterricht in die digitale Gegenwart holen
Die Autoren plädieren dafür, Lernformate zu erarbeiten, die Lernergebnisse auch in Zeiten von Schulschließungen unabhängig vom Familienhintergrund machen. Dazu gehören digitale Interaktionsmöglichkeiten auch außerhalb des Unterrichts an Schulen. Ein erprobtes Beispiel stellen etwa Mentoring-Programme dar, bei denen Schülerinnen und Schüler mit Lerndefiziten von Studierenden außerhalb der Schule beim Lernen begleitet werden. „Wir empfehlen der Politik, die Pandemie zum Anlass zu nehmen, um Schulunterricht in die digitale Gegenwart zu holen und neu zu strukturieren. Nur so kann der Staat den Anspruch einlösen, allen Kindern möglichst vergleichbare Lernumwelten bereitzustellen“, erklärt Guido Neidhöfer.