Eltern sein

Das Single-Dasein ist während der Pandemie schon sehr anstrengend. Wer nichts mit sich anfangen kann und auf den Kontakt zu Freunden und Bekannten angewiesen ist, wurde psychisch kräftig durchgeschüttelt. Dagegen können Eltern richtig froh sein, oder? Mit Homeoffice konnte die Arbeit zuhause erledigt werden. Daneben ließ sich auch die Hausarbeit gut koordinieren und schlussendlich konnten Eltern darüber hinaus noch als Hauslehrer aktiv sein. Ob das wirklich so entspannend ist, hat luckx – das magazin recherchiert.

Corona-Folgen

Die Folgen der Corona-Pandemie haben alle zu tragen. Auch wenn manche von der Pandemie geradezu profitieren; sei es durch Maskenverkauf oder durch Testzentren oder Online-Handel. Doch all dies wird in kurzer Zeit wieder vorbei sein. Daneben gibt es Betroffene, die an den Langzeitfolgen noch viele Jahre leiden werden. Denn das Virus hat sich tief im Körper und der Seele verankert. Neben den physisch betroffenen, die in einem langwierigen Prozess erst wieder den Alltag zu meistern erlernen müssen, gibt es gerade bei den Jüngeren erhebliche psychische Belastung. So sind gerade die Jugendlichen in einer besonders anstrengenden Lebensphase. Sie erleben nicht nur die Corona-Krise, sondern gleichzeitig einen der am längsten andauernden und dabei tiefgreifendsten Übergang: die Pubertät. Der Prozess der Reife und Geschlechtsreife der Jugendlichen innerhalb des Familiensystems muss trotzdem durch Eltern und dem Umfeld so gestaltet werden, dass sie ihr Potenzial optimal entfalten können.

Eigene Identität

Der Weg zur eigenen Identitätsfindung während der Pubertät ist von Probieren, sich Ausprobieren, wachsender Selbstständigkeit und Freiheitsliebe geprägt. Gleichzeitig benötigen die Heranwachsenden ihre Eltern und das Elternhaus als Rückzugsort. Sie wollen sich so wie die ersten zwölf bis vierzehn Lebensjahre auf ihre Eltern verlassen können, aber eben nur noch bei Bedarf. Mit dem Beginn der Pubertät müssen sich Eltern daher sukzessive von ihrer Rolle als Erziehende und Richtungsvorgebende lösen. Bemuttern oder Erwartungen durchsetzen bremst und behindert die Jugendlichen in der individuellen Entfaltung ihrer Persönlichkeit.

Die mit der Pubertät Jugendlicher einhergehenden (Persönlichkeits-)Veränderungen führen oft zu einer Schieflage im Familiensystem. Eine der klassischen Situationen, die einer ergotherapeutischen Intervention bedürfen. Wie sieht eine solche Intervention aus? Zum Erfassen der Lage setzen Ergotherapeuten Assessments ein. Das sind Analyseverfahren wie Beobachten, Befragen oder Testen. Dazu können sie sich in den familiären Alltag vor Ort integrieren und sehen: Wie interagieren Eltern und Jugendliche? Geben Elternteile beispielsweise Anweisungen oder machen Vorschriften, obwohl sie zuvor äußern, die Jugendlichen dürfen frei entscheiden? Die Selbstwahrnehmung weicht oftmals vom tatsächlichen Handeln ab und genau das spiegeln Ergotherapeuten ihren Klienten. Dieser erste Schritt der Selbsterkenntnis verändert oft schon einiges im Verhalten gegenüber den Jugendlichen. Ebenso sensibilisieren sie und verweisen auch bei aus Sicht der Eltern nicht verständlichen, schnellen Richtungswechseln der Jugendlichen bei Kleidungsstil, sportlichen oder anderen Aktivitäten darauf hin: Ja, der junge Mensch ist im Umbruch. Heute so und morgen anders zu sein gehört zum sichtbaren Teil der Identitätsfindung. Das ist genauso wichtig wie das, was die Eltern nicht mitbekommen und nicht wissen sollen, ist Teil des Sich-Abnabelns. Eltern dürfen sich dazu an ihre eigene Jugend und Pubertät erinnern.

Bezugsperson

Eine ganz besondere Bedeutung kommt dem Bereich der Gefühle zu. Ein wichtiger Teil des Erwachsenwerdens ist das Entdecken der eigenen Sexualität und die Entwicklung der Geschlechtsidentität. Körper und körperliche Bedürfnisse der Jugendlichen verändern sich. Sie verlieben sich zum ersten Mal, haben wichtige Fragen zu Sexualität und dieser für sie neuen, komplexen Gefühlswelt aus körperlichem und emotionalem Begehren. Nur zu verständlich, dass sie sich wünschen, dabei ernstgenommen zu werden. Den meisten Eltern ist es erfahrungsgemäß unangenehm, mit ihren Kindern über Liebe und Sexualität zu sprechen. Ein weiteres Ziel einer ergotherapeutischen Beratung kann daher sein, die Kommunikation in diesem Bereich zu ermöglichen oder zu verbessern. Manche Eltern möchten selbst in der Lage sein, einfühlsam aber auch faktisch mit ihren Kindern über sensible Themen zu sprechen. Oder sie wollen lernen – sollte das Kind eine andere Bezugsperson bei diesem Thema bevorzugen – diese Entscheidung, die sie möglicherweise als Ablehnung betrachten, anzunehmen.

Beschützen und vertrauen

Ergotherapeuten können Eltern befähigen, das eigene Loslassen besser zu bewerkstelligen und dabei den Nachwuchs an seine zunehmende Eigenverantwortung heranzuführen. Dazu ist es nötig, immer wieder gute Kompromisse zu finden und im Dialog zu bleiben. Zu fragen, wo braucht der Sohn, die Tochter Hilfe, was traut er oder sie sich zu. Das Familienleben ist von gegenseitigen Abhängigkeiten geprägt und das bedeutet, dass Eltern von der wachsenden Selbstständigkeit profitieren können. Die Jugendlichen einzubeziehen kann auch bedeuten, sie weiter an die Notwendigkeiten des Alltags heranzuführen, etwa im Haushalt. Jugendliche können durchaus die Wäsche übernehmen, bestimmte Speisen zubereiten oder eigenständig fehlende Lebensmittel besorgen. Selbst das fördert sie in ihrer Entwicklung. Eltern sollten herbeiführen oder gegebenenfalls zulassen, dass die Jugendlichen eigene Ideen und Wünsche zu mehr Selbstständigkeit äußern und umsetzen. Statt Perfektionismus zu erwarten, heißt es tolerieren, dass das Resultat möglicherweise nicht dem entspricht, hätte ein Elternteil die Aufgabe erledigt. Kompetenzen entwickeln sich. ‚Learning by Doing‘ und ‚Versuch und Irrtum‘ sind ausgezeichnete Methoden, um das eigene Können zu verbessern und die Eigenständigkeit zu beflügeln.

Keine Krankheit

Pubertät ist keine Krankheit. Aber die frühzeitige Intervention von Ergotherapeuten kann dazu beitragen, dass Jugendliche und Eltern die Jahre dieser Übergangszeit stressfreier bewältigen oder sich mögliche Schwierigkeiten oder Störungen gar nicht erst ausprägen. Sie hat vor allem das übergeordnete Ziel, die Identitätsfindung zu fördern und – nach vollendeter Abnabelung – ein Zurückkehren zu und ein liebevolles Miteinander mit den Eltern zu ermöglichen.