Mobilitätsarmut

Anscheinend hat die Verkehrswende begonnen. Schon im letzten Jahr konnten Bundesbürger mit dem 9-Euro-Ticket die Bundesrepublik bereisen. Mit der Elektromobilität soll eine weitere Möglichkeit erschlossen werden. Doch trotz dieser Anstrengungen bleibt die Mobilität weiterhin vom Einkommen abhängig, wie luckx – das magazin recherchierte.

Soziale Teilhabe

Beim schreiben dieser Zeilen wird politisch weiterhin konträr diskutiert, ob der Nachfolger des 9-Euro-Tickets, das 49-Euro-Ticket, weiterhin zu diesem Preis angeboten werden kann. Bund, Ländern und Kommunen sträuben sich zu einer Übereinkunft zu finden. Es erscheint den geneigten Betrachter so, dass überhaupt kein ernsthaftes Interesse an einer Mobilitätswende besteht. Der soziale Aspekt der Mobilität wird weit weg geschoben. Denn viele Mitbürger sind nicht in der Lage, diese 49 Euro jeden Monat aufzubringen.

Ähnlich sieht es bei de Elektromobilität aus. Hier folgen die Automobilhersteller ihrer üblicher Marktvorgehensweise: First Mover sollen die hochpreisigen Modelle und SUV sein. Mit preisgünstigen Fahrzeugen um 30.000,- Euro (!) ist erst in einigen Jahren zu rechnen. Die Konsequenz daraus ist, dass die auf ein Fahrzeug angewiesenen Nutzer mit geringeren Einkommen weiterhin auf Verbrenner zugreifen oder gebrauchte Fahrzeuge mit älterer Technik nutzen müssen. Sollten also das EU-weit vorgesehene Verbrenneraus tatsächlich umgesetzt werden, so werden nicht nur in Deutschland viele Mitbürgerinnen und Mitbürger von der Mobilität ausgeschlossen. Es folgt dann die Mobilitätsarmut. Und das im Autoland Deutschland.

Wie kann Mobilitätsarmut verhindert werden?

Um Mobilitätsarmut in Deutschland zu verhindern sollte entsprechend eines Diskussionspapier so vorgegangen werden, dass sowohl soziale Teilhabe als auch Klimaschutz gestärkt werden. Dieses Papier des Thinktanks Agora Verkehrswende aufbauend auf einem Hintergrundbericht des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) fordert politische Maßnahmen, die Abhängigkeit vom Auto zu verringern, einkommensarme Haushalte zu entlasten sowie Wege einfacher und kürzer zu gestalten oder überflüssig zu machen. Neben der Diskussion über politische Maßnahmen gehe es gleichzeitig darum, die Datenlage zu verbessern und Mobilitätsarmut in Deutschland besser zu verstehen.

Deutschland steht erst am Anfang, sich ernsthaft mit Mobilitätsarmut zu beschäftigen“, sagt Dr. Wiebke Zimmer, stellvertretende Direktorin von Agora Verkehrswende. „Schon im ersten Überblick wird deutlich: Das Thema ist auch in Deutschland relevant und wird noch relevanter werden, wenn die Preise für fossile Kraftstoffe zunehmend die Kosten für Klimaschäden enthalten. Deutschlands starke Ausrichtung auf das Auto birgt große soziale Risiken; und Subventionen nach dem Gießkannenprinzip wie Tankrabatte erreichen nur zu einem kleinen Teil diejenigen, die es tatsächlich brauchen. Von Pendlerpauschale und Dienstwagenbesteuerung profitieren zurzeit vor allem Menschen mit hohen Einkommen. Umso wichtiger ist es, Mobilitätsarmut anzugehen und Maßnahmen zu entwickeln, die der sozialen Teilhabe und dem Klimaschutz zugleich dienen.“

Erschwinglichkeit, Erreichbarkeit, Verfügbarkeit und Zeitarmut

Das Diskussionspapier erklärt den Begriff Mobilitätsarmut, analysiert anhand empirischer Daten, wie die verschiedenen Dimensionen von Mobilitätsarmut in Deutschland ausgeprägt sind, beschreibt die politischen Handlungsfelder und skizziert beispielhafte Maßnahmen. Der Begriff Mobilitätsarmut macht deutlich, dass Mobilität eine Voraussetzung für soziale Teilhabe ist. Einschränkungen in der Mobilität bedeuten deshalb auch Einschränkungen in der sozialen Teilhabe. Betroffen sind Menschen vor allem dann, wenn sie sich Mobilität nicht leisten können (Erschwinglichkeit), Orte des täglichen Bedarfs nicht gut erreichen (Erreichbarkeit), keinen Anschluss an Mobilitätsangebote haben (Verfügbarkeit) oder wenn Mobilität viel Zeit und Organisation erfordert (Zeitarmut).

Strukturell haben viele Faktoren Einfluss darauf, wie gut Menschen mobil sein können. Einen großen Unterschied macht nach Einschätzung von Agora Verkehrswende das Angebot an Bus- und Bahnverbindungen. Rund 27 Millionen Menschen in Deutschland haben keinen oder nur einen sehr schlechten Anschluss an den öffentlichen Verkehr. Hinzu kommen Einschränkungen, wenn es an barrierefreien Zugängen oder vergünstigten Tarifen fehlt. Als Alternative bleibe dann oft nur der eigene Pkw. Doch auch wer ein Auto hat, könne nicht immer wie gewünscht mobil sein. Vor allem einkommensarme Haushalte mit erwerbstätigen Personen müssten eher an anderer Stelle sparen, wenn sie für den Arbeitsweg auf das Auto angewiesen sind.

Steigende Spritpreise, Termindruck und Koordinationsaufwand

Eine besondere Risikogruppe sind deshalb Menschen, die häufig Auto fahren müssen, ein geringes Einkommen haben und kaum auf andere Verkehrsmittel umsteigen können“, betont Benjamin Fischer, Projektleiter Verkehrsökonomie bei Agora Verkehrswende. Ihnen werde es besonders schwerfallen, mit den absehbar steigenden Spritpreisen umzugehen. Gefährdet seien tendenziell auch eher Menschen in dünn besiedelten Regionen abseits der Städte, aber nicht automatisch. So gebe es zum Teil große Unterschiede zwischen benachbarten und in mancher Hinsicht ähnlich strukturierten Bundesländern: In Baden-Württemberg seien die Menschen zum Beispiel besser gegen steigende Spritpreise abgesichert als in Bayern; und in Sachsen besser als in Thüringen. Vorsorgen lasse sich gegen Mobilitätsarmut am besten durch den Ausbau des öffentlichen Verkehrs sowie durch Infrastrukturen und Arbeitsmodelle, die nicht die Nutzung eines Autos voraussetzen.

Termindruck und Koordinationsaufwand können Mobilität zusätzlich erschweren“, sagt Janna Aljets, Projektleiterin Städtische Mobilität bei Agora Verkehrswende. Frauen seien davon stärker betroffen. Während Männer eher längere Wege am Stück zurücklegten, etwa zur Arbeit, für Freizeit oder Einkäufe und Erledigungen, sei die Mobilität von Frauen geprägt durch kürzere, aufeinanderfolgende Wege, häufig mit Kindern, Gepäck oder Einkäufen. Das hänge unter anderem damit zusammen, dass Frauen mehr Sorge- und Haushaltsarbeit leisten als Männer. Ihre komplexeren und kleinteiligeren Wegeketten seien mit mehr Termindruck und Koordinationsaufwand verbunden. Bisher würden solche Geschlechterunterschiede in der Forschung zu wenig berücksichtigt.

Der Hintergrundbericht des DLR „Mobilitätsarmut und soziale Teilhabe in Deutschland“, erstellt im Auftrag von Agora Verkehrswende von Dr. Kerstin Stark und Dr. Ariane Kehlbacher (beide DLR, Institut für Verkehrsforschung) zusammen mit Dr. Giulio Mattioli (TU Dortmund) als Unterauftragnehmer, kann heruntergeladen werden unter: www.agora-verkehrswende.de/veroeffentlichungen.