Für Schülerinnen und Schüler ist Schule in normaler Zeit eine ordentliche Herausforderung. Die Ansprüche steigen von Jahr zu Jahr, so dass auch Eltern schon in normaler, Corona freier Zeit mit der Hausaufgabenbetreuung ihrer Kinder sehr stark geforderten wurden. Nun ist eine andere Zeit angebrochen: Homeschooling ist angesagt. Zwar findet nach dem Lockdown vom März bis Juni wieder Präsenzunterricht statt. Doch anscheinend wollen oder müssen die Lehrkräfte die versäumten Unterrichtseinheiten nachholen. Das schaffen nicht alle Schülerinnen und Schüler ohne Weiteres. Darüber hinaus, das zeigt die aktuelle Situation, müssen viele Klassen bzw. Jahrgänge und sogar ganze Schulen wegen wieder auftretender Corona-Fälle geschlossen werden.
Probleme aus ärztlicher Sicht
Das größte Problem beim Homeschooling war aus kinderärztlicher Sicht die Überforderung der Eltern in Folge der Doppelbelastung durch Arbeit und Betreuung. Den Kindern fehlten in den ersten Monaten der Corona-Krise in erster Linie die Treffen mit Freunden, feste Strukturen und Sport, sagen Pädiaterinnen und Pädiater. Ihre jungen Patienten seien während der Schließung von Schulen und Kitas teils enormen Belastungen ausgesetzt gewesen. Dies sind Ergebnisse der Studie „Homeschooling und Gesundheit 2020″, für die 150 niedergelassene Kinderärztinnen und Kinderärzte befragt wurden.
Generell haben Kinder stark unter den in der Corona-Krise geltenden Kontaktbeschränkungen gelitten. 85 Prozent der Kinderärzte sagen, ihre jungen Patienten hätten vor allem ihre Freunde vermisst. 80 Prozent stellten fest, dass den Kindern feste Gruppen und Strukturen wie in Kita, Klasse oder Sportverein fehlten. Knapp 60 Prozent der Ärzte bemängeln, dass der Nachwuchs während des Lockdowns zu wenig Sport gemacht habe.
Überforderte Eltern
Auch die Probleme, die während der Schul- und Kitaschließungen beim Homeschooling auftraten, erreichten die Kinderarztpraxen. Neun von zehn Ärzten berichten von überforderten Eltern, die monatelang neben ihrer Arbeit ihre Kinder betreuen und bei den Schulaufgaben unterstützen mussten. Sieben von zehn Ärzte sehen die Herausforderung, mehreren Kindern gerecht zu werden, als Teil dieser Überforderung. Etwa ebenso viele Mediziner berichten von fehlendem Kontakt ihrer Schützlinge zu Lehrkräften. Sechs von zehn der befragten Ärzte haben beobachtet, dass die Kinder zu wenig Unterstützung und Anleitung beim Lernen und beim Organisieren ihrer Aufgaben bekommen hätten. „Kinder wurden zu häufig allein gelassen. Eltern konnten die schulischen Umstellungen nicht immer auffangen, selbst wenn sie es versucht haben“, sagt Dr. Thomas Fischbach, Präsident des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte.
Fehlender Schulalltag
Auch ihre Lerngruppen haben die Kinder vermisst. 65 Prozent der Pädiater halten den über Wochen fehlenden direkten Kontakt zu Mitschülern für problematisch. Zugleich hätten die Kinder zu viel Zeit vor dem Bildschirm verbracht und sich zu wenig bewegt, stellt mehr als die Hälfte der Medizinerinnen und Mediziner fest. „Schule ist so viel mehr als die Vermittlung von Lerninhalten“, sagt Fischbach. „Schule ist ein sozialer Ort der Begegnung und des Austauschs mit Gleichaltrigen. Sport, Theater, Musik und andere Projekte, die Schulgemeinschaft mit ihren Festen sind wichtige Fixpunkte für die Kinder, die krisenbedingt plötzlich entfallen mussten.“
Wie schwierig die Lage für viele Familien in der Corona-Krise war, damit wurden die Mediziner auch direkt in ihren Sprechstunden konfrontiert. Etwa jeder achte Kinderarzt berichtet, dass Eltern seit Beginn der Corona-Krise häufiger von sich aus um Medikamente für ihre Kinder zur Behandlung von Verhaltensauffälligkeiten oder psychischen Problemen bitten. Solche Anfragen erleben besonders Praxen in sozial schwächeren Gebieten: Dort erlebt gut ein Viertel der Ärztinnen und Ärzte, dass sich Eltern nicht mehr zu helfen wissen und vermehrt nach Medikamenten für ihre verhaltensauffälligen Kinder fragen.
Kinder brauchen Strukturen
Der wichtigste Ratschlag der Ärzte an die Eltern, um im Homeschooling zu bestehen, lautet: Alltagsstrukturen schaffen. Das sagen drei Viertel der Mediziner. „Schulen und Kitas geschlossen, Freizeitaktivitäten wie Vereinssport oder Musik ausgesetzt, alle Spielplätze gesperrt – vielen Kindern wurde auf einen Schlag ihr Alltag genommen“, sagt Experte Fischbach. „Deshalb ist es so wichtig, dass Eltern für neue Strukturen sorgen, die den Kindern Halt und Orientierung geben. In Homeschooling-Phasen kann ein Familien-Stundenplan helfen. Dann sehen die Kinder, wann gearbeitet, gegessen oder gespielt wird.“
Ebenfalls eine wichtige Rolle spielen aus kinderärztlicher Sicht klare Regeln bei der Mediennutzung. So sollten Eltern die Dauer begrenzen sowie überprüfen, ob Filme und Spiele altersgerecht sind. „Zu wenig regulierter Medienkonsum war aus kinderärztlicher Sicht schon vor der Corona-Krise ein Problem. Das hat sich im Shutdown nicht entschärft, im Gegenteil“, sagt Fischbach.
Die Kinderärztebefragung „Homeschooling und Gesundheit 2020“ wurde im Juni und Juli 2020 im Auftrag der pronova BKK im Rahmen einer Online-Befragung durchgeführt. Bundesweit nahmen 150 niedergelassene Pädiaterinnen und Pädiater daran teil.