Mir wurde die Freiheit geraubt

Wir saßen gerade im Redaktions-Online-Meeting als der Anruf von Holger * eintraf. Kennengelernt hatten wir ihn auf einer Messe, zufälligerweise. Es war eine große Messe. Wir Redakteure waren nach verschiedenen Terminen zu dritt auf dem Weg zum Pressezentrum und schauten beim Vorbeigehen noch an einem Stand die Exponate an. Er sprach uns an und wir tauschten die Kontaktdaten aus. Längere Zeit hatten wir keinen Kontakt. Und nun sein Anruf. Schnell klinkte er sich in unser Online-Meeting ein und berichtete. Es wurde sehr persönlich.

Hintergrund

Vor fünf Jahren hatte er den ersten Herzinfarkt; nun den zweiten vor etwa einem Jahr. Und das mit gerade einmal 54 Jahren. Seit einem Jahr ist er nur im Homeoffice. Okay, wir Redakteure kennen es auch nicht anders. Keine Pressekonferenzen (außer online), keine Messe (außer online), keine Treffen (außer online). Doch bei ihm ist es noch anders. Aufgrund seiner Erkrankung kann ihm das Corona-Virus das Leben kosten. Und für eine Impfung ist er zu jung und die Erkrankung reicht nicht für eine vorgezogene Impfung aus. Außerdem: Welches Mittel sollte er nehmen? Eine Auswahl hat er nicht und eine Thrombose könnte sein Leben beenden.

Verärgerung

Eigentlich ist Holger ein ruhiger, ausgeglichener Mensch. Eher unaufgeregt. Doch der Ärger kochte je weiter wir das Gespräch fortführten. Wir haben in der Bundesrepublik Deutschland etwas, führte er aus, das in vielen anderen Ländern nicht möglich ist: Demokratie und Meinungsfreiheit. Wir lassen sogar zu, dass sogenannte Querdenker ihren Blödsinn frei erzählen dürfen. Wenn zum Beispiel ein Atilla Hildmann als sogenannter Querdenker die „Corona-Politik“ der Bundesregierung usw. kritisiert, ist das von der freien Meinungsäußerung gedeckt. Doch wenn er zum „Bewaffneten Widerstand gegen die Judenrepublik“ aufruft, ist das Volksverhetzung, also ein Straftatbestand und das Maß voll. Das hat dieser selbsternannte Koch auch erkannt und sich in „sein Heimatland“ Türkei abgesetzt. Er sei gespannt, so Holger weiter, wie der dort mit der freien Meinungsäußerung klar kommt.

Querdenken erlaubt

Holger lebt auf dem Dorf in der Nähe einer größeren Universitätsstadt. Dort hat er sich auch politisch engagiert und wurde vor einigen Jahren in den Rat gewählt. Weiß also, wie Kommunalpolitik funktioniert. Dort gibt es immer wieder Mitmenschen, die kruden Ideen nachhängen und diese gern „im Kleinen“ umsetzen wollen. Das kann einerseits auch zum Nachdenken anregen; anderseits sind mit verbohrten Mitmenschen keine Kompromisse möglich. Gerade jetzt, wo das Virus extrem wütet und die Fallzahlen rapide steigen. Umso unverständlicher ist es für ihn, wenn die Corona-Leugner es immer noch nicht verstanden haben, dass das Virus existiert und alles dafür getan werden muss, um es einzudämmen. Und dann fiel der entscheidende Satz: „Die haben mir meine Freiheit geraubt“.

Sicherlich, Demos müssen sein, sagte er, wenn es um die Einschränkung der Freiheit geht. Auch in der heutigen Zeit. Doch er müsse zusehen, wie AfD-ler und Nazis diese Szene unterwandern. Da werden demokratische Rechte missbraucht. Und dann wurde Holger ganz direkt: Sollen doch alle diese Leugner ihre Party feiern mit Hildmann, Naidoo und Nena. So lange, bis alle das Virus haben. Und wenn´s dann vorbei ist und alle negativ getestet wurden, lassen wir sie wieder raus. Sicherlich, sehr radikal.

Klare Linie erforderlich

Zum Glück, meinte Holger, ist er nicht Mitglied einer im Bundes- oder Landtag vertretenen Partei. Dann müsste er eventuell noch das schlechte Krisenmanagement verteidigen. Doch nun scheint es ja zu einer bundesweiten Corona-Regelung zu kommen, weil der Bund das Ganze in die Hand nimmt. Seine Hoffnung besteht in einer bundesweiten, einheitlichen Handhabung. Für ihn ist es unverständlich, warum ein Mallorca-Urlaub möglich sein soll und der Ferienwohnungsurlaub an der Ostsee nicht. Auch sollen die Beschränkungen die treffen, die für steigende Verbreitung des Virus verantwortlich sind. Wer infiziert ist, gehört in Quarantäne und nicht in den Betrieb; ob Schule, Kita oder im Büro. Und dort sind die Hygieneregeln einzuhalten.

Das hat seiner Meinung nach etwas mit Demokratie und Freiheit zu tun. Die Freiheit des einen endet dort, wo die Freiheit des anderen beginnt. Und hier, so sieht er es, wurde seine Freiheit beschädigt. Denn er kann aufgrund seiner Erkrankung nicht einfach in den Supermarkt gehen, wenn dort die Maskenpflicht missachtet wird. Er kann nicht ins Fitness-Studio gehen, weil aufgrund der hohen Fallzahlen diese weiter geschlossen bleiben müssen. Und das, so sieht er es, weil unsere Mitmenschen es immer noch nicht verstanden haben, dass durch unser Verhalten die Fallzahlen sehr schnell reduziert werden können. Aber auch durch unser Verhalten sehr schnell wieder steigen. So wie es aktuell ist.

Wir hörten ihm aufmerksam zu und wurden ganz still. Ja, Holger hatte es auf den Punkt gebracht. Wir baten ihn, seine Sichtweise anonym zu veröffentlichen. Ja, sagte er, es sei wichtig, in der aktuellen Situation „Farbe zu bekennen“. Vielleicht hilft es anderen, ihr handeln zu überdenken und die Vorteile unserer Demokratie und Freiheit auch schützen zu wollen. Im Interesse alle.

*Name von der Redaktion geändert. Einige Umstände verkürzt.